Stuttgart - Ilse Schmidt hat in diesem Jahr von ihren Kindern ein besonderes Weihnachtsgeschenk erhalten. Die pensionierte Lehrerin und passionierte Mercedes-Fahrerin aus dem Raum Stuttgart fand unter dem Weihnachtsbaum ein "Offizielles Zertifikat für Mercedes-Benz Klassiker". Das ist eine Art "Geburtsurkunde" für ihr 25 Jahre altes Mercedes-Benz CE-Coupe, versehen mit zahlreichen Daten aus dem Konzernarchiv der traditionsreichen Autobauers.
Harry Niemann, der Leiter des Archivs von Mercedes-Benz,
zeigt Raritäten aus dem Firmenarchiv
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"Das gute Gewissen des Unternehmens" nennte Archivleiter Harry Niemann sein Reich, das in Kellerräumen unter dem Mercedes-Benz-Museum im Werk Untertürkheim liegt. Das Zertifikat mit allen archvierten Daten eines Mercedes-Klassiker ist eine neue Dienstleistung der Archivare, die immerhin bereits 1000 mal bestellt wurde. Niemann, seit 1989 an der Spitze des 18-köpfigen Archivteams, kann sich noch andere Produkte aus den Keller-Schätzen vorstellen. "Vielleicht könnten wir Fotos an Oldtimer- oder Rennenthusiasten verkaufen". Denn das DaimlerChrysler-Konzernarchiv hat über 2,3 Millionen Fotos, aber auch die Filme von legendären Silberpfeil- Rennen, aufbereitet und teilweise digitalisiert.
Das Archiv, das neben Untertürkheim heute noch Räume in der Konzernzentrale in Stuttgart-Möhringen (Vorstandsdokumente) und im Classic Center in Fellbach besitzt, wurde 1936 gegründet. Das "Gedächtnis" der Erfinder des Automobils archiviert Dokumente und Artefakte aus der über 115 Jahren alten Geschichte des Automobils, der DaimlerChrysler AG und ihrer Ursprungsfirmen. Jedes Jahr kommen rund 10.000 Anfragen. Etwa acht Doktoranden sichten hier jährlich Material für ihre Doktorarbeit - allein die Buchbestände liegen bei etwa 9000 Bänden. "Wer über Automobilgeschichte schreibt, kommt am DC-Archiv nicht vorbei", betont Niemann.
Eine Besonderheit sind die so genannten Kommissionsbücher, die bis ins Jahr 1885 zurückreichen; in ihnen wurde jede Fahrzeugbestellung aufgenommen, inklusive Motor- und Fahrgestellnummer. Eine wichtige Hilfe, um Fälschungen - in der Klassikszene durchaus nicht unbekannt - zu erkennen.
Der erste Eindruck im Keller des Mercedes-Museum: Voll und etwas durcheinander. Beim zweiten Blick erkennt man das System, wobei die Raumknappheit unverändert bleibt - aber das ist wohl in jedem Archiv so. "Früher wurden wertvolle Dokumente aus Unkenntnis einfach weggeworfen. Heute gibt es bei den Mitarbeitern das Bewusstsein, uns wenigstens Material anzudienen", sagt Niemann. Ergebnis: Im Archiv lagern 7,7 Kilometer bearbeitete Akten und noch 5,5 Kilometer unbearbeitete Dokumente. "Wir sind das größte europäische Wirtschaftsarchiv", sagt Harry Niemann, der selber der Vereinigung deutscher Wirtschaftsarchivare vorsteht.
Zu den für den Laien beeindruckendsten Stücken im DaimlerChrysler- Archiv gehören natürlich der Spazierstock von Gottlieb Daimler, seine Bibel oder das Kochbuch der Familie. Dies wurde übrigens auch vom Archiv für die Öffentlichkeit neu herausgegeben. Jedes Jahr editiert das Konzernarchiv verschiedene wissenschaftliche Publikationen - wie etwas die zur Geschichte des Rennsports. Schmuckstück für jedes Automuseum wären die Originalrennplakate von Anfang des vergangenen Jahrhunderts - Schätzpreis für manche Exemplare um die 25.000 Euro. Auch Rennwagentrümmer des Le-Mans-Mercedes aus dem Jahr 1955 werden aufbewahrt - nach dem tragischen Unglück beendete Mercedes-Benz für viele Jahre sein Motorsportengagement.
In die nach außen ruhige Welt von DaimlerChrysler Classic ist Bewegung gekommen. Vor den Toren des Untertürkheimer Werks wird das neue Museum gebaut, das alte wird dann ausgeräumt, weshalb Niemann auf bessere, also größere Räume für sein Archiv hofft. Und vor allem will er heraus aus dem Keller. Denn vielleicht könnte er benachbarte Neckar ja mal massiv über die Ufer treten - und kaum etwas fürchten Archivare so sehr wie Wasserschäden.
dpa/lsw
29.12.2004